© Apostolos Tsolakidis/ v.l.n.r.: Georg Rieperdinger (Betroffenengruppe ehemaliger Seminaristen), Judith Dubiski (Projektleitung) und Johannes Koch (Betroffenengruppe ehemaliger Seminaristen)
Frankfurt a.M., 28.07.25. Das katholische Jungeninternat St. Michael Traunstein blickt in seine Vergangenheit. Im Frühjahr 2025 hat die Stiftung des Studienseminars in Oberbayern eine Aufarbeitungsstudie zu verschiedenen Formen von Gewalt im Zeitraum Mitte der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre beauftragt. Der Forschungsauftrag wurde in enger Abstimmung mit drei Betroffenen, dem Direktor des jetzigen Studienseminars und zwei zuständigen Mitarbeitenden in der Erzdiözese formuliert. Gemeinsam wollen sie sich für eine Aufarbeitung einsetzen, die Bedürfnisse Betroffener zentriert und Aussöhnung zum Ziel hat.
Aus der fast 100-jährigen Geschichte des Internats berichten viele ehemalige Seminaristen von bestärkenden Erfahrungen. Zur Geschichte gehört aber auch, dass andere Jungen parallel Belastendes erleben mussten. Sie berichten von verschiedenen Formen von Gewalt, die ihnen besonders im Zeitraum von Mitte der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre im Seminar angetan wurde. Vorrangig sprechen sie von psychischer, spiritueller und körperlicher Gewalt durch einzelne kirchliche und nicht-kirchliche Angestellte des Seminars. Die mittlerweile erwachsenen Betroffenen schildern Situationen, in denen sie am Internat herabgewürdigt, diffamiert, unter Druck gesetzt und körperlich „bestraft“ wurden. Vereinzelt sind Berichte sexualisierter Gewalt bekannt, die im Umfeld des Seminars ausgeübt wurde. Betroffenen wurde damals nach eigenen Angaben am Seminar nicht geholfen.
Der ehemalige Seminarist und Betroffene Johannes Koch beschreibt seine Zeit in den 70er- und 80er-Jahren am Studienseminar so:
„Als mein bester Freund in einer tiefen Krise steckte, war ich verzweifelt und ratlos. Ich bat den Präfekten, ihm zu helfen. ‘Ich weiß auch nicht, was ich da tun soll, ihr kennt euch besser, helft euch doch selber‘, waren seine Worte. Hilfe versprach dann der empathische Pater aus dem Kloster Maria Eck in der Nähe, er wurde der Täter. ‚Gell, die haben sich da nicht um uns beide gekümmert‘, sagt der Freund heute.“
In der vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS e. V.) durchgeführten Aufarbeitungsstudie wird ab Sommer 2025 nach Erfahrungen gefragt, die ehemalige betroffene und nicht-betroffene Seminaristen und Angestellte aus dem Zeitraum Mitte der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre gesammelt haben. Dabei wird nicht nur Vorwürfen von Gewalt in jeglicher Form nachgegangen, sondern durch die verschiedenen Perspektiven der Zeitzeugen ein vielschichtiges Bild des Seminars gezeichnet. Ein Forschungsteam untersucht anhand von Archiv-Recherchen, Fall-Studien und Interviews, was das Ausüben von Gewalt begünstigt hat, ob die Pädagogik des Hauses zeitgemäß war und welche Hilfen nötig gewesen wären. Ziel der Aufarbeitungsstudie ist es, den Geschichten Betroffener Raum zu geben, sie festzuhalten und mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Wolfgang Dinglreiter, der seit 2015 Direktor des Seminars ist, will sich im Namen seiner Institution verantwortlich zeigen:
“Heute erfüllt das Internat alle aktuellen, fachlichen Standards hinsichtlich Berufsqualifikation, Personalschlüssel und Schutz- und Präventionskonzepten. Die Berichte Betroffener aus der Vergangenheit erschüttern mich: sie erzählen von verschiedenen Formen von Gewalt, die bis in die Mitte der 80er Jahre reichen. Mir ist es ein großes Anliegen, dass diese Geschehnisse umfassend und differenziert aufgearbeitet werden, Betroffene endlich Gehör finden und ihnen Gerechtigkeit widerfährt.“
Erste konkrete Hinweise auf Fehlverhalten der Erziehenden zur damaligen Zeit wurden 2020 öffentlich. In Reaktion darauf veröffentlichten das Studienseminar und die Erzdiözese ein gemeinsames Statement und luden Betroffene zu einem Gesprächsabend im Seminar ein. Der ehemalige Seminarist Johannes Koch schloss sich infolge dem Unabhängigen Betroffenenbeirat in der Erzdiözese München und Freising an und formulierte den Vorschlag eines Forschungsprojekts. Die Unabhängige Aufarbeitungskommission in der Erzdiözese München und Freising befürwortete seinen Vorschlag und sprach gegenüber der Erzdiözese München und Freising die Empfehlung aus, diesen aufzugreifen und mit dem Stiftungsrat und der Studienseminarleitung umzusetzen.
Das Studienseminar ist eine rechtlich selbstständige kirchliche Stiftung öffentlichen Rechts. Die Finanzierung der Studie erfolgt mit Mitteln der Erzdiözese München und Freising. Im Herbst 2026 sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden.
Zur PDF-Version der Pressemitteilung.
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Sie waren im Zeitraum von Mitte 60er- bis Mitte 80er-Jahre am Seminar angestellt oder haben dort gewohnt? Gerne würden wir von Ihren Erfahrungen hören – unabhängig davon, ob diese eher positiv oder negativ waren. Unseren Interviewaufruf finden Sie hier. Weitere Informationen zum Projekt und FAQs finden Sie auf der Seite des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.
Wer Gewalt im Bereich der Erzdiözese München und Freising erfahren hat, findet sowohl durch interne als auch externe Ansprechpersonen Hilfe.
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Pressekontakt:
Für Rückfragen und Berichterstattung zur Betroffenengruppe und der Studie kontaktieren Sie bitte Theresa Köchl (wissenschaftliche Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit am ISS e. V.)
theresa.koechl@iss-ffm.de
Alle Presseanfragen rund um den Aufarbeitungsprozess in der Erzdiözese München und Freising und am Studienseminar St. Michael Traunstein schicken Sie bitte an die Pressestelle der Erzdiözese München und Freising: pressestelle@erzbistum-muenchen.de
Generell verweisen wir für eine betroffenensensible Berichterstattung rund um Gewalt und Missbrauch gerne auf die Tipps der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (der Bundesregierung).
