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Anhand der Situation in Thüringen und Baden-Württemberg analysiert die neue Studie des ISS e.V. autoritär-rebellische Mischszenen und ihre Auswirkungen auf die Arbeit der Partnerschaften für Demokratie im Bundesprogramms „Demokratie leben!“ Mit „autoritär-rebellischen Mischszenen“ werden die Träger eines Protestgeschehens bezeichnet, dessen Diskurs wesentlich von Verschwörungsglauben und Populismus geprägt ist – und das sowohl rechtsextreme als auch politisch linksorientierte demokratieskeptische bis -feindliche Personen anzieht.
Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass sich in den letzten Jahren in Deutschland ein Zusammenschluss rechter und linker, teils auch esoterisch-anthroposophisch geprägter Gruppen gebildet hat, die eines gemeinsam haben: Die Ablehnung zentraler demokratischer Werte. Das hat Auswirkungen auf die Arbeit der Demokratieförderung, welche die Partnerschaften für Demokratie im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gestalten. Das ISS legt erstmals einen Bericht dazu vor und präsentiert Daten aus Befragungen der Koordinator*innen der Partnerschaften für Demokratie.
Grundlage der Analyse ist ein Mixed-Methods-Design mit einer quantitativen Befragung aller Koordinator*innen der Partnerschaften für Demokratie in Baden-Württemberg und Thüringen, sowie qualitativen Interviews. Bereits seit 2020 beobachtet das ISS e.V. das während der Corona-Pandemie entstandene Protestgeschehen, welches in der Feindseligkeit gegen ‚die da oben‘ geeint ist. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellte sich bereits im Sommer 2022 als Katalysator für einen weiteren Aufschwung dieser Proteste heraus. Der vorliegende Bericht analysiert schwerpunktmäßig die Situation im Jahr 2023.
Er beleuchtet die Verbreitung, Akteur*innen und Inhalte dieser Mischszenen und stellt ihre Spezifika in Thüringen und Baden-Württemberg heraus. Er geht auf die Herausforderungen ein, die sich daraus für die Arbeit der Partnerschaften für Demokratie ergeben. Erfahrungen und Strategien im Umgang mit den Mischszenen sind ein Schwerpunkt des Berichts. Die Studie des ISS e.V. zeigt, dass autoritär-rebellische Mischszenen mit populistischen und verschwörungstheoretischen Mentalitäten Politisierungsräume bilden, die zu einem ‚Abdriften‘ in die Demokratiefeindlichkeit bewegen können. Sie treten bundesweit auf, aber mit regionalen Besonderheiten. Die autoritär-rebellischen Mischszenen erscheinen im Bundeslandvergleich in Thüringen weiter verbreitet, aggressiver und stärker von fremdenfeindlichen Haltungen und rechtsextremen Akteur*innen bestimmt. Auch Unsicherheiten bei ihrer Adressierung in der Präventionsarbeit tauchen in Thüringen häufiger auf. Baden-Württemberg fällt dagegen durch die stärker esoterisch-anthroposophische Prägung seiner Mischszenen auf. Geflüchtetenfeindschaft sei – so die befragten Koordinatorinnen der Partnerschaften für Demokratie – in Baden-Württemberg vergleichsweise wenig von den Mischszenen aufgegriffen worden. Als brisant an der Entwicklung in Baden-Württemberg, dem Ursprungsland der Corona-Proteste, erscheint aber die Teilnahme von zuvor linksalternativen oder esoterischen Milieus zugehörigen Personen, die sich im Rahmen der Corona-Proteste nachhaltig radikalisiert hätten.
Die zentralen Herausforderung vor die sich die Akteur*innen der Partnerschaften für Demokratie im Umgang mit den autoritär-rebellischen Mischszenen gestellt sehen, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Mit dem Protestgeschehen ist ein neuer Politisierungsraum entstanden, dessen Vielfältigkeit erstens eine besonders differenzierte Ansprache erzwingt und zweitens zugleich die Einordnung einzelner Akteur*innen erschwert; die Normalisierung demokratiedistanzierter bis -feindlicher Haltungen hemmt die Gegenrede (insbesondere in ländlichen Regionen mit ihren engen sozialen Kontakten); Vertreter*innen der kommunalen Verwaltungen verhalten sich teilweise unterstützend gegenüber der Arbeit der Partnerschaften, teilweise behindern sie diese aber auch unter anderem mit restriktiven Interpretationen des Neutralitätsgebots. Angesichts dieser Herausforderungen spielen die Koordinator*innen die Stärke der Partnerschaften für Demokratie aus: Aufklärung sowie Dialog- und gemeinschaftsbildende Formate. Dabei gelte es, so die Einschätzung der befragten Koordinator*innen, einen differenzierten Blick zu wahren, demokratiedistanzierte und -feindliche Personen nicht als homogene Einheit zu interpretieren und genau zu überlegen, wie mit wem und in welchem Kontext (Podiumsdiskussionen, Gesprächsrunden, Einzelgespräche…) der Dialog gesucht wird.
Download des Berichts
(barrierefrei)
Kontakt
Sebastian Winter, Bereichsleitung Demokratieförderung
Demokratieförderung am ISS
Am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS e. V.) werden seit vielen Jahren Programme des Bundes und der Länder zur Demokratieförderung und Extremismusprävention wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Praxis und Politik erhalten dabei fachlich fundiertes Wissen zu zielführenden Ansätzen, mit denen Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, politischen Bildung und Pädagogik aber auch Aktive in zivilgesellschaftlichen Initiativen Ungleichwertigkeitsvorstellungen und Radikalisierung begegnen können. mehr erfahren